20.10.2018 Ulrike Kessl
Schwarzwaldkaskade
Sehr geehrte Freunde und Freundinnen der Kunst,
Unterstützer und Unterstützerinnen des Skulpturenfeldes Kunstdünger hier in Hausen,
Verehrer und Verehrerinnen des Schwarzwaldes,
der sprudelnden Bächlein und grün schimmernden Matten,
liebe Suchende – nach Schönheit, Unbelastetheit, nach Ruhe, der einfachen Natur
oder einfach dem Idyll
Ihre Sehnsucht und die Suche teilen Sie mit vielen. Ist sie doch auch nicht neu.
Das erste Mal trat sie neuzeitlich mit der zunehmenden Industrialisierung in das Bewusstsein vieler. Plötzlich erschraken Denker und Denkerinnen, SchriftstellerInnen, Gesellschaftskritiker beiderlei Geschlechts vor etwas, was sie als Verdunkelung wahrnahmen
als Verrohung des Alltags, als eine Abkehr von der Schönheit, vom Glanz
und so stellten sie Fragen nach dem wahren Idyll
Ulrike Kessl sucht es wohl ebenfalls. – Sie macht es mit Witz, Ironie und Vieldeutigkeit. Und vielleicht hat Sie es in diesem Abbild
in der ganzen Vielschichtigkeit der hineingeschriebenen Bedeutungsfülle
in dieser Schwarzwald Kaskade sogar vor unser aller Augen und für unser aller Augen verdeutlicht oder gezeigt.
Und wer kann sich darüber wundern, dass es ihr am Herzen liegt, lautet ihre Adresse doch Himmelgeister Straße.
Schwarzwald – allein dieser Begriff ist für uns umgeben von Mythen und Märchen.
Wir denken vielleicht an Hauffs „Das Kalte Herz“,
an das harte Leben der Bergbauern,
an den Beginn des Wander- und Skitourismus um 1900, den Bau der Schwarzwaldbahn, an Naturfreunde- und Wandervogelbewegung.
Wir denken an Maler wie Hans Thoma, an den Duft von Pilzen und Tannnadeln, den heftigen Kampf um dieses Land im Südwesten, Auseinandersetzungen zwischen Badenern und Württembergern, an das Weltwirtschaftswunder und die Kaiserin Soraya mit dem Bollenhut auf dem Kopf.
Vielleicht denken wir auch an Sommerrodelbahnen, Motorradkollonnen, die sich röhrend durch schmale Täler an Hängen heraufwinden und Abgase, die Meere von Autofahrern bei Sonntagsausfahrten erzeugen.
Und Kaskade?
Kaskade, ist uns zumeist geläufig als der Begriff, der einen Wasserfall in Stufen benennt.
In der Biochemie oder Physiologie nennt man so die Abfolge von Reaktionen oder Einzelschritten in einem Stoffwechselweg also bspw. mehrstufigen Abläufen wie die Gerinnungskaskade.
Im Zirkus bezeichnet dieser Begriff den vorgetäuschten Absturz der Trapezkünstler.
Und sollten Sie in der Technik zu Hause sein, ist Ihnen der Begriff der Kaskadenregelung für die Verschaltung von Einzelreglern oder die Kaskadenschaltung in der Elektrotechnik vertraut.
Doch vielleicht führt uns erst der Begriff
Kaskadeneffekt, der benutzt wird, um eine Verkettung von Ereignissen oder Prozessen, wobei alle Ereignisse auf die vorhergehenden aufbauen, benennt, wieder zurück auf die vielschichtige Arbeit Ulrike Kessls.
Nur am Rande möchte ich sie noch auf das Experiment „KASCADE-Grande“ aufmerksam machen, dass der Erforschung der kosmischen Strahlung dient.
Das alles kann und soll bei unserer Betrachtung dieser Arbeit mitschwingen und doch können Sie sich auch einfach betören lassen von dem Objekt, dass uns so vertraut wie fremd erscheint.
Ein Brunnen, ein Quell, beleuchtet und sprudeln,
doch aufgesockelt eindeutig als künstlich und Kunstwerk zu begreifen-
und in einem Telefonhäuschen aufgebaut, das an Technik und Neuerrungen gemahnt.
Und heute doch längst so überaltert ist, dass es nur mehr als nostalgisch wahrgenommen werden kann und viele der Kinder, die hier in Häusern drum herum aufwachsen, wohl gar nicht mehr stutzen, dass dies hier natürlich ein Ausstellungs-, ein musealer Ort ist.
So erinnert Ulrike Kessls Schwarzwald Kaskade eben auch zugleich an Zimmerbrunnen
an deren Plätschern und Farbenspiel, das Wohltun und Meditation verheißen soll, manchmal gar noch mit Geruchsstoffen aufgeladen.
Schließlich wurde auch dieses künstliche Quell im Internet angeboten.
Doch denkt man wohl unweigerlich auch weiter – an mittelalterliche, klösterliche Wasserhäuser, wie das in Kloster Maulbronn, die ebenfalls nicht zum Waschen und Baden, sondern zur Einkehr, Ruhe, Kontemplation dienten.
Die Kühle in heißen Tagen versprachen und in denen die in der Klausur Lebenden auch im Winter, die Erinnerungen an die Lebendigkeit der Natur und die atmende Seele Gottes in allen Dingen, wachhielten.
Also wie soll man sich dieser Arbeit der Künstlerin Ulrike Kessl gegenüber positionieren?
Darf man sie einfach „schön“ finden – „vertraut“? Wirkt sie nicht sonderbar wohnlich mit dem grünen Webteppich im Hintergrund ?
Darf man sich von den Farben des Objektes einfangen lassen? Die Oberflächen-Schönheit bewundern ? Sich den subjektiven Assoziationen an Schwarzwald-Idyll uneingeschränkt hingeben?
Ja – und nein.
Denn das Besondere dieser Arbeit liegt eben in ihrer Vielschichtigkeit.
In ihrem Schwebezustand zwischen Gemütlichkeit, Natur, Künstlichkeit und Bauhauscharme.
Sie bewegt sich im weiten Spielraum der Fragen von Weltfremdheit, Weltabgewandheit, Weltzugewandheit,
von Idylle und Kitsch, Erhaltung und Fortschritt, Heimatgefühl und Heimatdusselei, Kunsthandwerk, Selbstbauset, industrieller Fertigung und Unikat.
Damit ist diese Arbeit hochaktuell für die Fragen, die unsere Gesellschaft gerade umtreiben.
Und zugleich eröffnet sie uns die Möglichkeiten des neugierigen Zugehens.
Alle Fragen, die wir an eine Bildhauerarbeit stellen möchten, nach Schönheit der Form, dem Material, nach Gestaltung, nach Verweisen und Symbolen, sind hier möglich.
Und am Ende ist es vielleicht so,
dass diese Schwarzwald Kaskade ein Synonyme unserer jeweils ganz eigenen Vorstellungen
von Kitsch oder Idyll oder dem Verweis auf eines von beidem ist.
Vielleicht ist es wie in den frühen Sammlungen der Renaissance, den sog. Wunderkammern, in denen Kuriositäten, ausgestopfte Tiere, seltene Steine, Fossilien neben Ölgemälden und goldenen Pokalen zu finden waren.
Alle gleich wichtig, gleich wertvoll, gleich beachtet und letztlich doch Ausdruck der gestörten, zerstörten Idylle, denn die gezeigten Objekte sind nur Sinnbild der Realität.
So müssen wir uns auch die Fragen stellen,
ob hier eine Art des Grusels pointiert und sensibel erzeugt bzw. hinterfragt wird,
die einer biedermeierlich anmutenden, heimeligen Gefühlsduselei, des sich Abwendens vom realen Alltagsgeschehen und Hinwendens zu einem besseren Später oder Anders/ Anderswo Ausdruck gibt.
Denn ist diese Schwarzwald Kaskade, diese künstlich, aus Kunststoff gestaltete Natur, ihre Bemalung „wirklichkeitstreue Stein-Dekoration“, ihre modellhafte Größe mit ihrem vermuteten Herstellungsort China, dauerhaft plätschernd mit dem grünen Hintergrund eines industriell gefertigten Webteppichs mit Fransen, in einem ehemaligen Telefonhäuschen gezeigt, in Rottweil/Hausen zwischen grünen Wiesen und Wäldern an einem saften Abhang aufgestellt
nicht tatsächlich ein überdeutliches Sinnbild unserer Zeit?
Danke
© Dr. Anja Rudolf, Oktober 2018